Kalender 2022: „Ganz aus dem Häusle“ oder „Verheißungsvolles Hoffen“

Im Herbst 2021 habe ich mit Stefans Unterstützung einen Kalender erstellt, der mich und meine Geschwister das kommende Jahr über begleiten sollte. Nun, im Dezember 2022, ist das letzte der zwölf Blätter aufgeschlagen und wird bald mit dem Kalender abgehängt und weggeräumt. Was für ein Kalender war das und was habe ich mit ihm erlebt?

Der Kalender mit dem Zusatz „ganz aus dem Häusle“ enthält Bilder aus unserem Elternhaus, Bilder, die uns seit unserer Kindheit begleiten. Wenn ich sie heute ansehe, erinnern sie mich an das Esszimmer oder an das Wohnzimmer im Elternhaus. Ich fühle mich dann, als würde ich zuhause sitzen, im Gespräch mit Mutter am Esstisch mit dem Blick auf das Schloss bei Meran oder – über dem Klavier – auf die Treppe der Michelskirche in Hall, und es entsteht ein Gefühl des Verwurzeltseins.

Die Bilder verbinden mich auf besondere Art mit meinen Wurzeln: Mehr als die Hälfte der Bilder sind Gemälde, die Gottlob Held gemalt hatte, Vaters Onkel, der Mann von Tante „Mariele“. Die dargestellten Orte sind mir vertraut, da ich die Orte besucht habe oder ich ihre Geschichte von Mutter erzählt bekam.

Ich schaue zurück im Kalender und lasse die Monate und Gemälde an mir vorüberziehen. Dabei beginne ich im April auf der Treppe vor der „Michelskirche“, Sankt Michael, in Schwäbisch Hall (bekannt von den Haller Freilichtspielen). Von meinen Besuchen in Hall kenne ich die Treppe, den Markt, Omas Arzt am Eck und auch den Brunnen mit dem Pranger. Die Michelskirche, zwischen zwei Bäumen, ragt hoch empor, sie sprengt fast das Papier. Ich freue mich über das Foto im Familienalbum, auf dem unsere Eltern zu sehen sind, wie sie bei ihrer Hochzeit die Treppe hochgehen zu Sankt Michael.

Der Mai zeigt die Comburg, genauer: Kloster Großcomburg bei Schwäbisch Hall, und ich entdecke auf dem Bild die Allee mit ihren Bäumen: am Beginn des Weges noch ganz ohne Blüten, aber mit immer mehr Blüten, je näher die Bäume der Comburg sind – ein angedeuteter Pilgerpfad mit der Kirche als Ziel. Auf einem Foto von 1930 entdecke ich dieses Gemälde, damals schon hing im Elternhaus dieses Gemälde der Burg, an deren Fuß Vaters Großeltern lebten und wo Vater nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft als 22-Jähriger ein Zuhause fand.

Das Julibild, eine Radierung von 1941 mit dem Titel „In Böhmisch Budweis“, stammt von Gottlob Held Junior, dem Sohn, der 1942, mit 22 Jahren, in Russland gefallen ist. Auch diese kleine Karte ist Teil der Familiengeschichte.




Der August zeigt ein Aquarell mit einer Landschaft in kräftig grüner Farbe, im Vordergrund ein Baum. Ich rätsele: Wo könnte das wohl sein?, und vermute: sicher irgendwo auf der Schwäbischen Alb. Wie gerne wüsste ich die Geschichte zu diesem Gemälde, das ich wegen seiner stärkenden Farbe besonders mag.



Auf dem Septemberbild sehe ich eine Burg, und aus Erzählungen der Mutter kenne ich das Motiv: „Schloss bei Meran“. Gottlob habe es der Schwägerin, geschenkt, weil sie ihm und seiner Frau die Reise nach Südtirol finanziert hatte. Ob dieser Teil der Geschichte wohl stimmt? Auf jeden Fall: Schloss bei Meran, davor Bäume voll roter Äpfel – ein passendes Pendant zur Baumblüte auf dem Weg zur Comburg. Im Internet findet man den Ort, von dem aus das Schloss wohl gemalt wurde.

O ja, das Herbstbild im Oktober gefällt mir, mit dem Stamm eines Baumes und am Boden im Gehölz rotbraun leuchtende Blättern. Man sieht, welche Mühe der Baum zu wachsen hatte – und welche Mühe der Maler hatte, um den Stamm zu zeichnen, im Hintergrund weitere Bäume. Dieses Bild veranlasste mich, Gottlob Held als „Bäumemaler“ wahrzunehmen, da auf jedem seiner Bilder Bäume zu sehen sind.

Wirklich auf jedem Bild? Gottlob Held hatte 1925 beim Stuttgarter Loewes Verlag das Kinder-Bilderbuch „Im Wolkenwunderland: Eine Traumreise unserer Kleinen,“ veröffentlicht, mit selbst verfassten Reimen und Bildern über eine Fantasiewanderung über den Wolken, mit vielen putzig-pummeligen Engeln. Im Wolkenwunderland gibt es natürlich keine Bäume – oder etwa doch? Aber klar doch: Die Traumreise endet auf der letzten Seite des Buches im „Weihnachtsdom“ – groß, hell und voller Engelchen, und in der Mitte des Doms die Krippe mit einem … – was wohl? – Christbaum. Unser Familienexemplar ist mit einer Widmung für Großmutter Klara versehen: „Der lieben Klara zu Weihnachten 1925 von Gottlob Held“, und ich weiß: Im Januar war Hochzeit und im Dezember 1926 wurde unser Vater geboren. Der Zustand des Buches zeigt, wie sehr Klaras Söhne und Enkelkinder das Buch geliebt haben.

Vom Dezember gehe ich noch einmal zurück zum März, zu einem Gemälde mit einer besonderen Geschichte. Zu sehen ist im Vordergrund – na klar! – ein Baum, groß und stark. Es scheint am Ende des Winters zu sein, der Baum ist dürr und nackt, ohne Blätter und ohne Blüten. Das zarte Licht am Horizont lässt jedoch ahnen, dass der Winter vorüber ist und der Frühling beginnt. Ein Bild mit Baum – was soll daran besonders sein? Im Gespräch mit Mutter erfuhr ich: Auf der Rückseite des Gemäldes klebt – damals wie heute – eine Postkarte vom 14. Dezember 1956, geschrieben von Gottlob Held an Tante Martha. Wer Gottlobs Handschrift entziffert, erfährt: Gottlob hatte Martha das Bild per Post geschickt und war froh, als Martha ihm schrieb, dass das Gemälde gut bei ihr angekommen war. Im Schreiben nennt Gottlob das Motiv des Gemäldes: Er habe das Bild für sich „Verheißungsvolles Hoffen“ genannt, habe darüber aber geschwiegen, weil er von den Betrachtern hören wollte, was jeder von sich aus sieht. Am Ende der Karte verkündet Gottlob die Neuigkeit: „Heute hat unsere Rosemarie ein Mädchen geboren …“.

Beim Betrachten von Gottlob Helds „Verheißungsvolles Hoffen“ im Laufe des Jahres 2022 habe ich mir immer wieder gewünscht, dass das Hoffen auf neues, friedvolles Leben Erfüllung finden wird. Hoffen und Wünschen werden uns auch im neuen Jahr begleiten.

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