Den Tag beginnen

Auf dem Esszimmertisch der Eltern, neben dem Frühstücksgeschirr, lagen „Die Losungen“, dieses kleine blaue Büchlein, in dem für jeden Tag je ein Spruch aus den Alten und aus dem Neuen Testament steht, dazu eine Strophe aus einem Gesangbuchlied.

„Die Losungen sind ein Andachtsbuch, das für jeden Tag des Jahres zwei Bibelworte enthält: die Losung aus dem Alten Testament und den Lehrtext aus dem Neuen Testament. Ergänzt werden die beiden Texte durch einen Liedvers, ein Gebet oder einen kurzen Prosatext. Die alttestamentliche Losung wird ausgelost, die anderen Texte thematisch passend dazu ausgesucht.“

(https://www.losungen.de/die-losungen)

Seit wann lag das Büchlein auf dem Familien-Frühstückstisch? Sicher damals schon, als Vater uns beim Frühstück Vokabeln abgefragt hat, bevor wir zum Zug eilten, der uns zur Schule in die Stadt brachte. Damals las Vater die Verse – so meine ich mich zu erinnern – aus einer Sonderausgabe mit den Texten in Hebräisch, Altgriechisch und Latein. Irgendwann kamen die „Bolderntexte“ dazu, die einen der beiden Losungs-Sprüche erklären, auslegen und Impulse geben, Impulse zum Weiterdenken.

Seit 1953 gibt es die Bolderntexte. Sie bedenken jeden Tag einen biblischen Vers. In der Anfangszeit schrieb der damalige Boldern-Leiter Jakob Rinderknecht die täglichen Betrachtungen zu einer Losung der Herrnhuter Brüdergemeine allein. Heute ist es ein Team von 22 Personen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Dabei zeigen sich die Vielfalt der biblischen Texte und die Möglichkeiten, sie für unsere heutige Gesellschaft zu deuten.

(https://bolderntexte.ch/ und https://t1p.de/1x7r2)

Im Ruhestand, als die Kinder von Zuhause ausgezogen waren, lagen weiterhin die beiden Hefte bereit, und die Eltern lasen einander am Morgen daraus vor. Als Vater nicht mehr sehen konnte, las Mutter ihm vor – und später las sie die Texte alleine, morgens beim Frühstück. Auch noch in Heim lagen die Hefte auf Mutters Tisch.

Und heute? In diesem Jahr liegen erstmals auch bei uns die Losungen und die Bolderntexte auf dem Frühstückstisch. Am Morgen – oder auch mal am Nachmittag, wenn die Zeit es eben zulässt – lesen wir uns daraus vor, machen uns Gedanken, sprechen über den Text oder suchen im Gesangbuch die Melodie zum Liedvers. Und lassen uns – wie früher die Eltern – von einem Wort, einem Satz oder einem Vers begleiten. Selbst wenn wir mit einem Text nichts anzufangen wissen, tut diese Pause gut, das Innehalten, bevor der Alltag uns mit sich reißt.


					

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