Verlorene Wörter – gesammelt, gerettet, bewahrt

Welches Wörterbuch, welches Lexikon hattet Ihr zuhause oder in der Schule, und wer hat es wofür benutzt: Brockhaus, Duden, Wahrig, …, Stowasser, Langenscheidt, Robert …? Habt ihr euch beim Gebrauch der Wörterbücher Gedanken darüber gemacht, welche Arbeit nötig war, bis das Buch in eurer Hand war, und darüber, wie die aufgeführten Wörter ins Wörterbuch gekommen sind? Wer hatte bestimmt, welche Wörter dort aufzunehmen sind – und welche nicht?

Genau darum geht es in Pip Williams’ im Frühjahr 2022 erschienen Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“: um das Erfassen von Wörtern, ihrer Bedeutungen und ihrer Belegstellen, und zwar für die erste Ausgabe des „Oxford English Dictionary“, kurz „OED1“, genauer: „A New English Dictionary on Historical Principles“, das zwischen 1884 und 1928 erarbeitet und in zehn Bänden mit jeweils rund 1500 Seiten veröffentlich wurde.

Die „verlorenen Wörter“ in Pip Williams’ Roman sind Wörter, die vernachlässigt, verworfen oder verloren wurden und im OED1 nicht aufgeführt wurden, weil sie zwar in Gebrauch waren, sie aber in der vorgegeben Literatur (s. Bücherliste von 1879) nicht belegt waren.

Das Thema um die Erfassung der Wörterbucheinträge mag trocken klingen, Pip Williams hat die reale Geschichte über die Arbeit an den zehn Bänden mit jeweils rund 1200 Seiten in ihrem Roman jedoch so mit fiktiven Personen und Ereignissen verwoben, dass das Lesen des Romans spannend zu lesen ist, nicht nur für Leserinnen und Leser, die Sprachwissenschaft oder Literatur studiert haben.

Zum Inhalt von Pip Williams: „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, „Dictionary of Lost Words“

Oxford, Ende des 19. Jahrhunderts. Esme wächst in einer Welt der Wörter auf. Unter dem Schreibtisch ihres Vaters, der als Lexikograph am ersten Oxford English Dictionary arbeitet, liest sie neugierig heruntergefallene Papiere auf. Nach und nach erkennt sie, was die männlichen Gelehrten oft achtlos verwerfen und nicht in das Wörterbuch aufnehmen: Es sind allesamt Begriffe, die Frauen betreffen. Entschlossen legt Esme ihre eigene Sammlung an, will die Wörter festhalten, die fern der Universität wirklich gesprochen werden. Sie stürzt sich ins Leben, findet Verbündete, entdeckt die Liebe und beginnt für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

Verlagstext von Penguin Random House Verlagsgruppe zu Pip Williams: „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, übersetzt von Christiane Burkhardt. Diana Verlag, April 2022, 528 Seiten.

Wer hören oder lesen will, wie die Autorin den Inhalt und das Entstehen ihres Romans vorstellt, kann folgende Filme ansehen: „The Dictionary of Lost Words by Pip Williams trailer“ und „Pip Williams introduces The Dictionary of Lost Words“, oder folgende Texte lesen: „Women of Words“ und „A Secret Feminist History of the Oxford English Dictionary“.

Historisches und Fiktives miteinander verweben

Ich erspare es mir, im Detail zu überprüfen, welche Figuren, Ereignisse und Texte in Pip Williams’ Roman historisch sind und welche fiktiv – dazu verweise ich auf Williams’ Ausführungen am Ende des Romans und auf die Website des OED. Ich freue mich aber darüber, dass Esmes „Tante Ditte“ historisch belegt ist als Edith Thompson:

Edith Thompson (1848-1929)
A historian, and the author of a popular History of England, Thompson acted as consultant to the OED on historical terms. She was a major reader for the Dictionary who, along with her sister, Elizabeth Perronet Thompson, was credited in 1888 with 15,000 quotations. She also subedited C and proofread from D onwards. ((..))

OED > Home > History of the OED > OED editions > Contributors

Gut durchdacht hat Williams das – in OED1 tatsächlich – verlorene Wort „bondmaid“ in ihren Roman eingebunden: von Seite 17, wo das Wort Esme zufliegt, über die Seiten 473 bis 481, wo das Wort erneut den Weg zu Esme findet und vom Dienstmädchen neu definiert wird: „Ich bin dir eine bondmaid, dir in Liebe verbunden, …“, bis hin zum Ende des „Dictionary of lost Words“.

Pip Williams: „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, S. 481

Neugier: das verlorene Wort im OED1

Wie Pip Williams auf die Idee kam, ein im Wörterbuch fehlendes Wort in ihren Roman einzufügen und damit dem Roman seine Struktur zu geben, das wollte ich dann doch genauer wissen und habe dazu per Fernleihe das Buch „The Making of the Oxford English Dictionary“ von Peter Gilliver bestellt, in dem u. a. das Fehlen des Wortes „bondmaid“ beschrieben wird (s. auch den Artikel im Online-Magazin „Mental Floss“):

Peter Gilliver: „The Making of the Oxford English Dictionary“,
Oxford University Press, 2016, S. 199

Wer weitere Fragen zur Entstehung und zur praktischen Arbeit am OED1, OED2, OED3 hat, empfehle ich Peter Gillivers Buch. Allein die Fotos der Herausgeber, der Arbeitsräume, der Belegzettel und die Wörterbucheinträge in den verschiedenen Versionen sind als Ergänzung zur Romanlektüre absolut bereichernd für die, die sich für die Arbeit an einem Wörterbuch interessieren und begeistern können.

Kleiner Ausflug: Leseerlebnisse in und um Oxford

Das Bild, wie die Hauptperson Esme als Kind im „Skriptorium“ unter dem Sortiertisch sitzt, erinnerte mich an den (leider vergriffenen) Jugend-Roman von Marie-Aude Murail: „Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler“, eine fiktive Autobiographie von Beatrix Potter, bekannt als Autorin von „Peter Rabbit“ u.a. Beiden, Esme und Charity, ist eine angemessene Ausbildung verwehrt und sie finden erst über Umwege ihren Platz in einer von Männern dominierten Welt der Bücher als Redaktionsassistentin bzw. als Autorin und Illustratorin. Beide leben zwischen 1880 und 1940 in England, die eine in Oxford, die andere in London.

Und natürlich sehe ich den Stadtplan von Oxford im Kinderbuch „Auf den Spuren von Alice im Wunderland“ von Christina Björk und Inga-Karin Eriksson nach und freue mich, Bekanntes darauf zu entdecken: Ashmolean Museum, Bodleian Library, Parks Road, Broad Street, … Die von Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll aufgenommenen Fotos lassen mich die Atmosphäre in Oxford Ende des 19. Jahrhunderts erahnen. Das Buch über Esme Nicoll, die Sammlerin der verlorenen Wörter, hätte sicher auch der kochenden Chemikerin Elizabeth Zott gefallen.

Mit Marie-Aude Murail und mit Christina Björk und Inga-Karin Eriksson
auf den Spuren von Charity Tiddler und von Alice im Wunderland
James A. H. Murray, with the Assistance of many Scholars an Men in Science:
„A New English Dictionary on Historical Principles …“. Volume I. A an B. Oxford, 1888, und Pip Williams
: „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, Diana-Verlag, 2022.

„Sie sind kein Schiedsrichter des Wissens, Sir. Sondern sein Bibliothekar ((..))
Es steht Ihnen nicht zu, über die Bedeutung dieser Wörter zu urteilen,
sondern nur, anderen Zugang dazu zu gewähren.“

Esme Nicoll/Owens am Eingang der Bodleiana
bei der Übergabe von „Frauenwörter und ihre Bedeutungen“ ;
Pip Williams: „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, S. 480

Und zum Schluss: Dank an die Stadtbibliothek Freising, die Murails „… Charity Tiddler“ anbietet und die mir die Lektüre von Williams’ „Sammlerin der verlorenen Wörter“ ermöglicht hat.

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