Verflixt und zugenäht: „La costura“ von Isol

Der argentinischen Autorin und Illustratorin Marisol Misenta, kurz: Isol, folge ich seit 2013, als sie bei ihrer Reise zur Verleihung des Astrid Lindgren Memorial Award in Stockholm die IJB in München besucht hatte. So erfuhr ich auch jetzt von ihrem neuen Buch „La costura“. Der Inhalt des Buches – soweit ich die Ankündigungen auf Spanisch verstand – machte mich neugierig: Entstanden sei „La costura“ („Nähen“) nach einer Reise Isols nach Palästina und es handle vom Wechsel zwischen verschiedenen Kulturen. Ein Buch über Nähen in verschiedenen Kulturen – so meine Erwartung. Als ich das Buch endlich in meinen Händen hielt, entdeckte ich eine wunderbare Geschichte über zwei Seiten ein- und desselben bestickten Tuches …

Zuerst ein Blick zurück, ins Jahr 2013:

Bei ihrem Besuch der Internationalen Jugendbibliothek, IJB, in München stellte Isol u.a. das Buch „Tener un patito es útil“ vor, „Ein Entlein kann so nützlich sein“, das vom Wechsel zwischen zwei Seiten handelt: Dieses kleine Aufklapp-Pappbuch mit seinen freundlichen hellen Farben ist für mich ein Buch für frischgeborene Eltern und ihr Kind, die sich auf das Abenteuer des Lebens einlassen und erkennen, wie man als Entlein, als Kind oder als Eltern die gleiche Situation ganz unterschiedlich erleben kann.

Etwas ähnliches wie die zwei Seiten des Entlein-Buchs ist bei „La costura“ zu entdecken: Man sieht die Seiten von ein und derselben Welt auf der Grundlage eines bestickten Tuches – man muss nur das Tuch wenden und entdeckt in den Fäden der Stickereien eine Stadt mit einem Fluss oder einen Luchs mit fünf Füßen.

Es war für mich nicht einfach, dieses neue Buch von Isol zu bekommen, zu dem es (noch) keine Übersetzung ins Deutsche gibt. Die meisten Informationen dazu gab es auf Spanisch und waren für mich nicht leicht zu verstehen. Eine Ausgabe auf Italienisch soll es geben („Il rammendo“), doch wenn ich Isols neues Buch schon nicht in einer guten deutschen Übersetzung lesen kann, dann doch lieber gleich das Original auf Spanisch! Wie froh war ich, als ich es bei der internationalen Kinderbuchhandlung mundo azul in Berlin entdeckt, bestellt und bezahlt hatte und es zwei Tage später aus dem Briefkasten holen konnte.

Gespannt öffnete ich das Buch. Um der Geschichte folgen zu können, kam nun die Smartphone-Übersetzung von Google zum Einsatz – fürs Erstellen einer besseren Übersetzung mit DeepL war ich zu ungeduldig. Zwar waren die übersetzten Sätze nicht schön formuliert, ganz ohne eigenen Klang oder Rhythmus, aber dem eigentlichen Gang der Handlung und den Überlegungen der Hauptperson, „Lila“, konnte ich gut folgen:

Inhalt von „La costura“:

Das Mädchen Lila verliert immer wieder Dinge und versucht, ihrer Mutter zu erklären, warum das so ist: Es gibt eine andere Seite, „el Lado de Atrás“, und zwischen dieser anderen Welt und der eigenen Welte gibt es Löcher, durch die Dinge wie ein Regenschirm oder ein Radiergummi einfach hindurchfallen und verlorengehen. Um das Verschwinden weiterer Gegenstände zu verhindern, macht sich Lila daran, die Löcher zuzunähen. Doch nachdem alle Löcher zugenäht sind, muss Lila am Nebel und am Husten der Großmutter erkennen, dass ihre Idee, die Löcher zuzunähen, falsch war. Um ihren Fehler wiedergutzumachen, trennt Lila die Nähte auf – und wird dafür von der anderen Seite mit einem ganz besonderen weichen karottenfarbigen Ding beschenkt.

Folgt Lila, die von den beiden Seiten und den Löchern weiß, selbst jedoch, anders als Alice im Wunderland, auf ihrer Seite bleibt.

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Spannend ist es, die beiden Seiten des Tuchs zu erforschen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu entdecken: die Großmutter und die Kinder am Fluss auf der einen Seite und Lexis und Rolf auf der anderen Seite.

„El Lado de Atrás“ ist für mich eine mit unserer Welt verbundene Welt voller Fantasiewesen, die wir Menschen nur durch die Löcher, „Los agujeros“, erahnen können. Durch diese Löcher verlieren wir zwar Dinge, wir werden aber auch mit Licht, Luft, Musik und Träumen beschenkt. Die Geschichte mag auch an die Zeile aus Leonard Cohens Anthem erinnern: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in …“ – eine etwas schwermütige Melodie, aber doch passend zu den dunklen Farben des Buches und den Übergängen in die andere Welt. Das Verschließen der Löcher und Risse würde uns Licht und die Luft zum Atmen nehmen.

Welcher Kinderbuchverlag wird es wohl wagen, dieses nicht einfache, aber so wunderbare, fantasievolle Kinderbuch auf Deutsch herauszubringen und Isols Bilder und ihre Geschichte mit schön klingenden Sätzen zu versehen?

Übersetzung mit Luft nach oben!

Auf der letzten Seiten des Buches sieht man Isol mit einem bestickten Tuch und man erfährt, dass Isol dieses Tuch von einem Aufenthalt in Palästina mitgebracht hatte:

Tras un viaje a Palestina, la autora ((… )) volvió con un objeto maravilloso que convirtió en historia.
Nach einer Reise nach Palästina kehrte die Autorin ((…)) mit einem wunderbaren Gegenstand zurück, den sie in eine Geschichte verwandelte.

Isol, Fondo de Cultura Económica de Argentina; deepL-Übersetzung

Muchas gracias, Isol, por „flonkus“!

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