„Was mein Herz anrührt und es höher schlagen lässt“– auf den Spuren der japanischen Hofdame Sei Shōnagon

Heute möchte ich dir, liebe Freundin, zwei Bücher ans Herz legen – zwei Bücher, die sich, wie ich denke, bestens für deine Lesegruppe eignen. Wie sehr beneide ich dich doch um diesen Kreis und wie gerne würde ich die beiden Werke und ihre Schriftstellerinnen vorstellen und erfahren, welche Gedanken ihr beim Lesen dieser Werke habt, nämlich:

Den Hinweis auf die „Dinge, die das Herz höher schlagen lassen“ fand ich im Internet und war – als Finnland- und Japan-Fan – sofort neugierig auf das Werk der finnischen Autorin Mia Kankimäki, die sich 2010/2011 auf die Suche nach dem Leben der japanischen Hofdame Sei Shōnagon gemacht hatte.

Das Cover des Buchs ist verlockend: auf gelbem Grund sieht man eine Frauengestalt von hinten im Kimono und mit langem schwarzem Haar und – so scheint es – die gleiche Figur nochmals, aber mit hellem Haar. Das Taschenbuch mit über 500 Seiten ist im Mai 2021 genau die richtige Lektüre, um – wenigstens in Gedanken – in ferne Länder zu reisen.

Die Ich-Erzählerin lässt ihren Arbeitsalltag in der Marketingabteilung eines Verlags hinter sich und stellt einen Antrag für ein Stipendium – ein Stipendium, das es ihr ermöglichen soll, in Japan über die Schriftstellerin Sei Shōnagon zu forschen und darüber ein Buch zu schreiben. Hintergrund für Kankimäkis Interesse an Sei Shōnagon ist der, dass sie Jahre zuvor Texte von Sei Shōnagon kennengelernt hatte und sie seitdem Sei Shōnagon als ständige Begleiterin an ihrer Seite hatte, mit ihr redete und sie direkt ansprach: „Zu deiner Zeit, Sei, …“.

Nun also zu Sei, Sei Shōnagon: Sei Shōnagon diente vor rund 1000 Jahren als Hofdame der damaligen jungen japanischen Kaiserin und hatte das Buch „Makura no Sōshi“, „Kopfkissenbuch“, geschrieben,. Dieses Buch besteht aus tagebuchähnlichen Betrachtungen, aus Beschreibungen der Hofzeremonien und … – aus Listen, Listen aller Art: über peinliche Dinge, seltene Dinge oder über „Dinge, die das Herz höher schlagen lassen“.

Immer wieder vergleicht Mia Kankimäki sich mit Sei, sieht Ähnlichkeiten mit ihr und deren Schicksal bzw. dem Schicksal, wie sie, Mia Kankimäki, es sich ausmalt. Auch Mia schreibt Listen: über „irritierende Dinge“, „erledigte Dinge“ oder „Dinge, die zu tun sind“ …. Passend zum eigenen Erleben in Japan fügt Kankimäki Zitate aus Seis Werk ein und nimmt Seis Texte als Impuls für den Blick auf das eigene Erleben beim Forschen und Schreiben. In längeren Abschnitten berichtet Kankmäki von den jeweils neuesten Ergebnissen ihrer Forschungen und sie beschreibt, wie sie Seis Erlebnisse versteht, interpretiert, deutet und welche Hypothesen sie zu Seis Leben aufstellt.

Die Suche nach Sei Shōnagon ist spannend zu lesen, und es drängt einen zu erfahren, warum die Suche einen Abstecher nach London zu Virginia Woolf erforderte oder was es mit den gegensätzlichen Begriffen „mono no aware“ und „okashi“ auf sich hat. Parallel zu den Berichten über Sei Shōnagon erfährt man aber auch, was Mia Kankimäki auf ihren Reisen in Japan erlebt, und man begleitet sie auf ihren Wegen im heutigen Kyōto, in einer Welt, an die mancher Leser und manche Leserin sehnsuchtsvoll denken wird beim Lesen von Worten wie „Silberner Tempel“, „Fahrrad“, „Kirschblüten“ und „Philosophenweg“. Jawohl, auch wir waren dort und haben die Kirschblüte am Philosophenweg erlebt.

Doch nun zu Sei Shōnagons Werk, dem „Kopfkissenbuch“: Mia Kankimäki hatte Seis Texte auf Englisch gelesen und die englischen Texte ins Finnische übertragen. Für das in Deutschland erschienene Buch wurden schließlich die von Kankimäki übersetzten Zitate ins Deutsche übersetzt. Tatsächlich gab es bis vor Kurzem auf Deutsch nur wenige Ausgaben von Seis Buch, meist als stark verkürzte Texte unter Titeln wie: „Das Kopfkissenbuch einer Hofdame“ oder „Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shōnagon“. 2015 jedoch erschien eine neue Ausgabe des „Kopfkissenbuchs“ auf Deutsch, und zwar in ungekürzter Version: „Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt und neu herausgegeben von Michael Stein“.

Diese neue Ausgabe gibt es in einer wunderbaren, aber teuren Ausgabe und – seit 2019 – in einer kleinen, günstigen Ausgabe. Dieses kleine, dicke Buch liegt so gut in der Hand, dass man es leicht bei sich tragen kann – am liebsten möchte man mit dem Buch im Gepäck sofort losreisen, natürlich nach Japan!

Sei Shōnagons Text gibt Impulse für eigene Überlegungen, z. B.: „Was mir Zuversicht gibt“, „Was mich freut“ …; dazu bietet der Übersetzer Michael Stein viele informative, interessante und hilfreiche Erklärungen und ein ausführliches Nachwort zu Sei Shōnagons Leben und Werk. Der Japanologe und Theaterwissenschaftler Michael Stein erhielt 2016 für seine Neuübersetzung des „Kopfkissenbuchs“ den Japan Foundation Übersetzerpreis.

Die neu übersetzte, kommentierte Ausgabe des „Kopfkissenbuchs“ ist der richtige Partner zu Mia Kankimäkis Buch, in dem wir Kankimäki bei ihrer Suche und ihrem Schreiben begleiten und lesen, wie sie sich schließlich – in Gedanken mit Sei an ihrer Seite – an den Schreibtisch setzt und die gemeinsame Geschichte aufschreibt.

Wer selbst am Schreiben und Übersetzen interessiert ist, wird bei einem Vergleich der Texte sicher zum Nachdenken angeregt und fragt sich: Hätte der Verlag bei der Übersetzung von Kankimäkis Buch vielleicht besser die neue Übersetzung aus dem Japanischen heranziehen sollen? Hierzu der Vergleich einer Passage aus beiden Werken:

Dinge, die das Herz höher schlagen lassen
[…] Wenn man sich die Haare wäscht, sich zurechtmacht und in parfümierte Gewänder kleidet – selbst wenn einen keine Seele zu Gesicht bekommt, verleiht es eine innere Befriedigung.

Mia Kankimäki: „Dinge, die das Herz höher schlagen lassen“. 2021. S. 40.
(„Things That Make One’s Heart Beat Faster“ nach Ivan Morris: „The Pillow Book of Sei Shônagon”)

Was mein Herz anrührt
[…] Ich wasche mir die Haare, schminke mich sorgfältig und lege wunderbar duftende Gewänder an. Auch ohne dass mich irgendjemand sieht, bin ich dann, nur für mich allein, im Herzen vollkommen glücklich.

Sei Shōnagon: „Kopfkissenbuch – Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt und neu herausgegeben von Michael Stein“. 2019, S. 57/58

Während die etwas kantigen „Dinge, die das Herz höher schlagen lassen“ mit ihren nüchternen Formulierungen wie „[…] verleiht es eine innere Befriedigung“ weniger freundlich zu lesen sind, wirkt „Was mein Herz anrührt“ leicht und luftig und Formulierungen wie „bin ich [..] im Herzen vollkommen glücklich“ klingen sehr freundlich und persönlich.

Was rührt nun unser Herz mehr an und was lässt unsere Herzen höher schlagen: Die von Michael Stein direkt übersetzten Worte von Sei Shōnagon? Oder die auf dem Umweg über das Englische ins Finnische und dann ins Deutsche übersetzten Worte? Mir scheint, dass die von Michael Stein übersetzten, leicht lesbaren Texte Mia Kankimäkis Zitate nicht passend wiedergeben können, gerade weil Kankimäkis Suche von der englischen Ausgabe ausgegangen war und diese den Rahmen für die Suche nach Sei Shōnagon vorgegeben hatte.

Ihr wart gekleidet wie Schmetterlinge, konntet euch aber nur bewegen wie Raupen.

So kann ich dir und deinen Lesefreundinnen nur raten: Lest beide Bücher. Sprecht darüber und erzählt euch, was ihr beim Lesen Bände erlebt! Und am liebsten: Lasst mich an eurem Gespräch teilhaben!

本とコーヒーを 楽しみください。
Buch und Kaffee – bitte genießen Sie!

Dank an die Penguin Random House Verlagsgruppe für die Rezensionsexemplare von:

Mia Kankimäki: „Dinge, die das Herz höher schlagen lassen“. Aus dem Finnischen übersetzt von Stefan Moster, btb Verlag, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, Mai 2021. Finnisches Original: „Asioita jotka saavat sydämen lyömään nopeammin“, 2013.

Sei Shōnagon: „Kopfkissenbuch – Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt und neu herausgegeben von Michael Stein“ (von Sei Shōnagon verfasst in den Jahren um 996 n. Chr.). Manesse, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, 2019.
(Die „Luxusausgabe“ von 2015, ohne Schuber, haben wir uns selbst zugelegt und uns daran erfreut.)

2 Gedanken zu „„Was mein Herz anrührt und es höher schlagen lässt“– auf den Spuren der japanischen Hofdame Sei Shōnagon

  1. marie.sf

    Auch wenn dieser Blogbeitrag schon älter ist, möchte ich doch noch Danke sagen! Deine Rezension hat mich neugierig gemacht und ich habe beide Bücher gekauft – und fand sie total spannend zu lesen. Das Kopfkissenbuch ist für einen Listenfreak (ich bin auch einer) interessant (was, sind die Texte wirklich schon so alt? nicht zu glauben) und das Buch von Mia Kankimäki hat mich begeistert. Es ist eine Mischung aus Tagebuch, Reisebericht, Nachdenken über Literatur/Schreiben/Lesen. Ich würde gerne mehr von ihr lesen!

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    1. Mirjam Beitragsautor

      Nun denn, liebe Marie, wie wäre es damit:
      Mia Kankimäki: „Frauen, an die ich nachts denke – Auf den Spuren meiner Heldinnen“; 2022, btb

      „Und eines Tages beschließt sie, Ernst zu machen, die Welt zu bereisen und den Spuren ihrer Nachtfrauen wirklich zu folgen – Karen Blixen nach Tansania, Sei Shōnagon nach Japan, vergessenen Renaissance-Malerinnen nach Florenz. Denn wenn diese Frauen es vor Hunderten von Jahren in die Welt geschafft haben, warum sollte Mia das dann nicht auch können?“

      Ich habe es noch nicht gelesen, es steht noch auf meiner Bücherliste …

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