Familiendecke

Weggegeben habe ich sie, die Wolldecke, ich weiß nicht mehr, wohin. Sie war mir wohl zu schwer – zu schwer, um sie zu waschen und in die neue Wohnung mitzunehmen.

Sie lag auf unserem Ehebett, damals, als wir zu dritt waren, Vater, Mutter, Kind. Tagesdecke war sie, wenn das Bett gemacht war und Familienalltag mit Kleinkind stattfand, dort, am Marktplatz, in unserer ersten gemeinsamen Wohnung neben der Stadtkirche.

Wie kam sie zu uns, wie kam sie zu mir? Nach Omas Tod muss es gewesen sein – da habe ich sie wohl bekommen, vor unserer Hochzeit, vor dem Leben zu dritt.

Viele Jahre muss sie dort gelegen haben, auf dem Sofa in Omas Wohnzimmer. Wohl jedes der Enkelkinder kann sich an die Decke erinnern und könnte fragen: „Ach ja, die Decke – wo ist sie eigentlich hingekommen?“.

In einer frühen Erinnerung liegt sie über Opas Beinen, im Erkerzimmer im Schulhaus, ich sitze auf seinem Schoß. Ich fühle die Wolle – und fühle Opas zitternde Beine, Beine eines alten Mannes. Wie alt ich damals war? Drei oder vier Jahre – sicher nicht älter.

Wer hat die Decke gestrickt und den Großeltern geschenkt? Das würde ich gerne wissen. Ein einfaches Muster hatte sie, lauter rechte Maschen, hin und her gestrickt. Viele Quadrate, die aneinander gehäkelt sind. Masche für Masche, Quadrat an Quadrat – auf Opas Knie, auf Omas Sofa, auf unserem Bett: Familiendecke.

 

Der Text entstand in einer 7-Minuten-Übung im Seminar „Biografisches Schreiben“ mit Petra Dahlemann im Frühjahr 2016. Der Impuls lautete: „Ein unvergessliches Kleidungsstück“.
Wie bei jedem biografischen Text frage ich mich: „Was davon ist wirklich so geschehen? Was hat wirklich so stattgefunden – und was ist meiner Vorstellung entsprungen?

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